Mittwoch, 31. Dezember 2014

X. Karin von Schweden, Kapitel I

Das Geschehen setzt zwei Tage nach dem Stockholmer „Blutbad“ vom 9. November 1520 ein, als der Sieger Christian II. von Dänemark den schwedischen Adel zur Krönung nach Stockholm geladen hatte, dort verurteilen und fast ausnahmslos ermorden ließ. Es beschränkt sich zeitlich auf einen Tag an den südschwedischen Wasserfällen von Trollhättan und auf dem von Jensen in ihre Nähe verpflanzten Schloss Torpa der Adelsfamilie Stenbock. Die junge Karin, wegen ihrer märchenhaften Schönheit „Rose von Trollhättan“ genannt, wird bei ihrer lebensgefährlichen Verfolgung eines Schmetterlings von einem Fremden vor dem drohenden Absturz in die Strudel gerettet. Dieser Fremdling gibt sich nicht zu erkennen, ist jedoch auf der Flucht vor den Dänen und bittet inkognito um ein Nachtlager. Karin führt ihn heimlich ins Schloss und überlässt ihm ihr Schlafzimmer, das an dasjenige ihrer blinden Mutter Brita anschließt. Überraschend tauchen abends Karins Vater Gustav Stenbock und ihr Verlobter Gustav Rosen auf. Der Vater ist wegen einer Verletzung nicht bis Stockholm gelangt. Der in Torpa aufgewachsene, schwedisch naturalisierte Däne Rosen hat das Massaker mit erlebt und berichtet davon.
Plötzlich erscheinen dänische Soldaten. Stenbock erhält wegen Nichterscheinens in Stockholm Hausarrest und man will das Schloss durchsuchen. Als die Reihe an das Schlafgemach Karins kommt, gibt sich Rosen den Dänen zu erkennen und interveniert: er gebe sein Wort, dass niemand sich nebenan im Schlafzimmer seiner Braut aufhalte. Die Dänen erkennen ihren hochrangigen Landsmann, entschuldigen sich und Rosen sieht selber nach und entdeckt in dem leeren Zimmer zu seiner Bestürzung Stiefelspuren auf dem Bett und im Gang. Karin hatte inzwischen den Verfolgten zu dem unterirdischen Gang nach Trollhättan geführt, während Rosen die Truppe herbei ruft. Der Verfemte verlangt von Karin einen Kuss für ihre Rettung am Wasserfall und erzwingt ihn in dem Augenblick, als Gustav Rosen sie entdeckt und in ihm den einzigen schwedischen Adligen, Gustav Erichsson, erkennt, der sich der Einladung widersetzt hatte. Rosen, am Rande der Verzweiflung, wünscht, er wäre nie zurück gekommen und lässt jenen um sich und Karins willen entfliehen. Den Soldaten versichert er, es sei kein Mann im Zimmer verborgen gewesen. Die Verlobten sind in dieser „sonderbaren“ Situation unfähig, sich einander zu erklären.

Und wo ist der Falke?
Die zweite Rettung, d.h. die Gustav Erichssons durch Karin, stürzt Gustav Rosen jäh und unvermutet in einen Loyalitätskonflikt zwischen seiner Braut und seinem König, vertreten durch den dänischen Durchsuchungstrupp. Er fühlt sich von Karin verraten, wobei er selber Verrat begeht, indem er sie und Erichsson nicht ausliefert. Karins Betrug trifft ihn ins Herz, macht ihn hilf- und kraftlos. Plötzlich sieht er sich vor einem Rivalen gleichen Namens. Karins Liebe scheint verloren.
Aber dieser Novellentopos wird nicht explizit. Der Konflikt zwischen Liebe und Vaterland kommt nicht recht zu Bewusstsein, ist eher Karins spontane Geste der Dankbarkeit und Verteidigung als eine Entscheidung gegen Rosen. Dennoch prägt dies Ereignis hinfort die Charaktere und reift besonders bei Karin zu einem politischen Engagement heran, um in einer Verrat-Dublette in Kapitel V eine bewusste Entscheidung herbei zu führen.

Man muss einräumen, dass die Falkentheorie hier etwas zu subtil thematisiert ist, als dass sie eindeutig dies erste Kapitel als Novelle kennzeichnet und vor allem damit nicht abschließt. .1 Ist es nicht Gustav Rosen, der die Herzenswunde erhält, und nicht Karin, die Rose von Trollhättan, nach der die Novelle ja benannt ist?
Eine dominantere Struktur leitet sich aus der ansteigenden Spannung des Geschehens ab, mit der Wilhelm Jensen gut vertraut war: es ist eine theatral-dramatische, nicht zuletzt im Blick auf die Ideenquelle Ibsen mit der Situation des ersten Aktes von „Fru Inger av Oestrod“. Das Schloss Torpa repräsentiert mit den beiden benachbarten Räumen ein reduzierte Szenenbild des nationalen Geschehens mit allen wichtigen Kontrahenten – vorerst ohne Christian II. - im schwedischen Freiheitskampf, in den das zentrale Liebespaar hineingezogen wird. Der Konflikt zwischen der Liebe zueinander und der zum Vaterland ist ein häufiger Antagonismus im französischen klassischen Theater. An die Stelle der älteren, handlungsunfähigen Inger bei Ibsen tritt nunmehr verjüngt Karin und rettet Erichsson, der niemand anderes ist als Gustav Wasa, der spätere frei gewählte König Schwedens und ihr künftiger Gemahl. Es ist die epische Exposition eines sich zuspitzenden Königsdramas und im Hinblick auf Karin und Rosen das Charakterdrama der sich in der Staatsaffäre und im Rivalitätskonflikt verlierenden Protagonisten des Liebesplots. Exeunt.

1Jensens Umgang mit literarischen Doktrinen kann sehr unbefangen sein und bis zur Ironie gehen. In „Deutschland in Not“ (1909) konstruiert er eine Dreiecksgeschichte zwischen dem Herzog von Braunschweig, einem Hans Gibich und einer jungen Mitkämpferin gegen die Franzosen, eine geborene Falke, hier „Falconia“ genannt, in die Gibich hoffnungslos verliebt ist, weil offenbar der Herzog sie erwählt hatte und mit nach England nehmen wollte. Erst im letzten Augenblick vor der Überfahrt, als Gibich sie für verloren gibt, klärt ihn der Herzoig darüber auf, dass er sie unter diesem Vorwande für ihn mitgeführt habe und ihrer Liebe nicht im Wege stehe.   

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