Mittwoch, 31. Dezember 2014

IX. Die literarische Form

Karin von Schweden“ trägt den Zusatz: Novelle. Der Text ist mit rund 230 Seiten eigentlich zu lang für diese Gattung, die im goethischen Sinne eine „unerhörte Begebenheit“ zu schildern hat, während sich hier eine ganze Reihe von Ereignissen innerhalb eines Jahres in neun Kapitel reiht. Vordergründig bildet unser Text den ersten Band der Sammlung „Nordlicht“, deren Folgebände jeweils zwei Novellen enthalten, auf die die traditionellen Kriterien durchaus zutreffen. Somit hätte Jensen um der Einheit willen auch „Karin von Schweden“ so klassifiziert, wenn nicht aus der damals neu entflammten Novellen-Debatte weitere Gesichtspunkte zu Tragen kommen.
Jensens Münchener Freund Paul Heyse, der 1910 als erster deutscher Autor den Nobelpreis erhalten sollte, hatte 1871 mit dem ersten Band „Deutscher Novellenschatz“ eine Novellenanthologie begonnen, die im Laufe der Jahre auf über siebentausend Seiten anwachsen sollte. In seiner Einleitung geht er auf die Gattungsgeschichte auch unter dem fördernden Einfluss der modernen Presse und ihrer Feuilletons ein.1 Dabei versucht er nachzuweisen, dass Novelle und Roman sich nicht durch das Längenmaß unterscheiden (S. VI). Der Novelle sei es vergönnt, den Eindruck auf einen Punkt zu sammeln und dadurch zur höchsten Gewalt zu steigern und „mit einem raschen Schlage uns das innerste Herz zu treffen“ (ebda.). Die Novelle habe in einem einzigen Kreise einen einzelnen Konflikt als Ereignis (S.VII). Das Spezifische verrate schon die bloße Anlage, und hier prägt Heyse einen ersten eigenen Begriff aus der Malerei: eine starke Silhouette, die sich inhaltlich auf wenige Zeilen zusammenfassen lasse wie bei den alten Italienern, die ihren Novellen kurze Überschriften voranstellten. Heyse nimmt als Beispiel Boccaccios Decamerone V, 9:

Federigo degli Alberighi liebt, ohne Gegenliebe zu finden, in ritterlicher Werbung verschwendet er all seine Habe und behält nur noch einen einzigen Falken; diesen, da die von ihm geliebte Dame zufällig sein Haus besucht und er sonst nichts hat, ihr ein Mahl zu bereiten, setzt er ihr bei Tische vor. Sie erfährt <später>, was er getan, ändert plötzlich ihren Sinn und belohnt seine Liebe, indem sie ihn zum Herrn ihrer Hand und ihres Vermögens macht“ (S. VII/VIII)
Auch wenn im damaligen vielbrüchigen modernen Kulturleben sich eine so einfache Form nicht für jedes Thema finden lasse, so sei doch zuerst zu fragen, wo „der Falke“ sei, das Spezifische, das diese Geschichte von tausend anderen unterscheidet.
(Vgl. S.VIII)

Um Jensens „Karin von Schweden“ im Hinblick auf diese Kriterien zu überprüfen, bedarf es einer Inhaltsskizze, zunächst des ersten Kapitels von 70 Seiten, das vielleicht in sich eine Novelle sein könnte, die später historisch eingebettet wurde.

1Vgl. Paul Heyse u. Hermann Kurz: Deutscher Novellenschatz. Bd. 1. München: Oldenbourg 1871, S. V-XXII und bes. S. 7 f.

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