„Karin von Schweden“
trägt den Zusatz: Novelle. Der Text ist mit rund 230 Seiten
eigentlich zu lang für diese Gattung, die im goethischen Sinne eine
„unerhörte Begebenheit“ zu schildern hat, während sich hier
eine ganze Reihe von Ereignissen innerhalb eines Jahres in neun
Kapitel reiht. Vordergründig bildet unser Text den ersten Band der
Sammlung „Nordlicht“, deren Folgebände jeweils zwei Novellen
enthalten, auf die die traditionellen Kriterien durchaus zutreffen.
Somit hätte Jensen um der Einheit willen auch „Karin von Schweden“
so klassifiziert, wenn nicht aus der damals neu entflammten
Novellen-Debatte weitere Gesichtspunkte zu Tragen kommen.
Jensens Münchener
Freund Paul Heyse, der 1910 als erster deutscher Autor den Nobelpreis
erhalten sollte, hatte 1871 mit dem ersten Band „Deutscher
Novellenschatz“ eine Novellenanthologie begonnen, die im Laufe der
Jahre auf über siebentausend Seiten anwachsen sollte. In seiner
Einleitung geht er auf die Gattungsgeschichte auch unter dem
fördernden Einfluss der modernen Presse und ihrer Feuilletons ein.1
Dabei versucht er nachzuweisen, dass Novelle und Roman sich nicht
durch das Längenmaß unterscheiden (S. VI). Der Novelle sei es
vergönnt, den Eindruck auf einen Punkt zu sammeln und dadurch zur
höchsten Gewalt zu steigern und „mit einem raschen Schlage uns das
innerste Herz zu treffen“ (ebda.). Die Novelle habe in einem
einzigen Kreise einen einzelnen Konflikt als Ereignis (S.VII). Das
Spezifische verrate schon die bloße Anlage, und hier prägt Heyse
einen ersten eigenen Begriff aus der Malerei: eine starke
Silhouette, die sich inhaltlich
auf wenige Zeilen zusammenfassen lasse wie bei den alten Italienern,
die ihren Novellen kurze Überschriften voranstellten. Heyse nimmt
als Beispiel Boccaccios Decamerone V, 9:
„Federigo
degli Alberighi liebt, ohne Gegenliebe zu finden, in ritterlicher
Werbung verschwendet er all seine Habe und behält nur noch einen
einzigen Falken; diesen, da die von ihm geliebte Dame zufällig sein
Haus besucht und er sonst nichts hat, ihr ein Mahl zu bereiten, setzt
er ihr bei Tische vor. Sie erfährt <später>, was er getan,
ändert plötzlich ihren Sinn und belohnt seine Liebe, indem sie ihn
zum Herrn ihrer Hand und ihres Vermögens macht“ (S. VII/VIII)
Auch
wenn im damaligen vielbrüchigen modernen Kulturleben sich eine so
einfache Form nicht für jedes Thema finden lasse, so sei doch zuerst
zu fragen, wo „der Falke“ sei,
das Spezifische, das diese Geschichte von tausend anderen
unterscheidet.
(Vgl. S.VIII)
Um Jensens „Karin von
Schweden“ im Hinblick auf diese Kriterien zu überprüfen, bedarf
es einer Inhaltsskizze, zunächst des ersten Kapitels von 70 Seiten,
das vielleicht in sich eine Novelle sein könnte, die später
historisch eingebettet wurde.
1Vgl.
Paul Heyse u. Hermann Kurz: Deutscher Novellenschatz. Bd. 1.
München: Oldenbourg 1871, S. V-XXII und bes. S. 7 f.
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