Wilhelm Jensens
historischer Roman aus dem schwedischen Befreiungskrieg von dänischer
Tyrannei um 1520, „Karin von Schweden“ (1872), sein prosemitisch
engagiertes Werk, „Die Juden von Cölln“ (1869, „modernisiert“
2008 von Frank Schätzing) und vor allem seine 1907 von Sigmund Freud
für die Psychoanalyse herangezogene Novelle „Gradiva“ (1903)
sind die wenigen überdauernden Werke eines einst viel gelesenen
Autors, dessen Gesamtwerk in seiner Schaffensperiode von 1866 bis zu
seinem Tode 1911 rund einhundert dreißig vorwiegend erzählerische
Titel und ein gutes Dutzend Gedichtbände umfasste. Allein „Karin
von Schweden“, das die Bibliothek Gutenberg heute mit zur
Weltliteratur zählt, hat bis Ende der fünfziger Jahre des letzten
Jahrhunderts mit einer Gesamtauflage von einer viertel Millionen
Exemplaren mehrere Generationen von Lesern gefesselt, ist 2009 in der
englischen Version von 1896 neu ediert worden und liegt 2014 zum
ersten Mal in der Übersetzung von Christian Moncel und Reinhard Pohl
auf Französisch vor.
Jensens Lyrik taucht in
keiner Anthologie mehr auf, wiewohl der strenge Theodor Storm 1883
schrieb: „Der einzige jetzt lebende echte Lyriker, soweit mir
bekannt, dem nichts fehlt als die geduldige Freude an völliger
Vollendung des Gedichtes, ist W. Jensen. Immer wieder nehme ich seine
Bücher mit Versen in die Hand und sehe in diese Tiefe und diesen
Reichtum. Warm, wie duftschwerer Sommer kommt es mir daraus
entgegen“.1
Wilhem Raabe gar empfahl Jensen nach der Lektüre der Gedichte in
„Vorherbst“ 1889: „Mache Verse, Mann, und laß uns die Prosa“.
Im Erscheinungsjahr
unseres Romans „Karin von Schweden“ 1872 konnte Jensen bereits
fünfundzwanzig meist veröffentlichte Werke vorweisen, neben
Gedichten die Frauen-Tragödien „Dido“ und „Juana von
Castilien“, während die Mehrzahl der Werke dieser frühen Phase
Novellen und historische Romane waren und bis zu seinem Tode 1911
auch die bevorzugten Gattungen bleiben sollten.
In den
Literaturgeschichten findet der einstige freie Erfolgsautor Wilhelm
Jensen wenn, dann nur am Rande Erwähnung – abgesehen von dem
später reichlichst kommentierten Bezug von „Gradiva“ zur
psychoanalytischen Verdrängungstheorie Freuds – im Hintergrund
zu seinen literarischen Freunden Emanuel Geibel (1815-1884) und
besonders Wilhelm Raabe (1831-1910) oder seinem novellistischen
Vorbild Theodor Storm (1817-1888). In dem Standardwerk Albert
Soergels, „Dichtung und Dichter der Zeit“ von 1911 kommt Wilhelm
Jensen nicht mehr als Zeitgenosse der letzten Generation vor. War der
Groß-Dichter historischer Romane mit seinen Werken in eine Enklave
entwichen? Später erfolgte die bekannte Verabschiedung der Autoren
der Jahrhundertwende als bärtige Vertreter der „Welt von
Gestern“.2
Man könnte die
Popularität Jensens und das Vergessen bzw. die Nichterwähnung auch
auf Seiten der nachfolgenden literaturwissenschaftlichen Fachwelt
damit zu erklären suchen, dass seine Romane vielleicht auf keiner
sehr hohen literarischen Qualität beruhten, allzu schematisch seien
oder gar ans Triviale grenzten und damit neben den genannten Meistern
bis hin zu Theodor Fontane (1819-1898) auf Dauer im Wertekanon nicht
bestehen konnten. Rein stilistisch zumindest hob sich Jensens
Erzählkunst wegen ihrer syntaktisch sehr differenzierten Prosa vom
damaligen feuilletonistischen Trivialroman deutlich ab und sprach ein
historisch interessiertes gebildetes Leserpublikum so erfolgreich an,
dass er ab 1872 von seiner Feder leben konnte.
Kaum jemand, nicht
einmal eingestandener Weise Jensens Biograph A. Erdmann (1907), hatte
damals das Riesenwerk insgesamt lesen oder nur angemessen überblicken
können. Gängige Quellen verzeichnen heute maximal noch die Hälfte
der Werke. Fündiger wird man jedoch in der Universitätsbibliothek
von Jensens Vaterstadt Kiel. Neuauflagen außer seinen
nationalgeschichtlichen Werken z.B. zur Hanse sind seit den 20ger und
30ger Jahren des letzten Jahrhunderts eher selten. Einer editorischen
Rückbesinnung auf seine erzählerischen Meisterwerke verdanken wir
die erneute Auflage der Novellen „Im achtzehnten Jahrhundert“
(Latka 1988). Einen breiteren Zugang durch die Digitalisierung
älterer Ausgaben besonders aus den Universitätsbeständen der USA
beschert uns seit einigen Jahren eine kleine Renaissance fast aller
Titel als e-books, jüngst sogar als „Gesammelte Werke“ (s.u.),
die alle den Bestellzahlen nach wohl noch auf ihre Entdeckung harren.
Schon lange vor der
Jahrhundertwende von 1900 schwand das Interesse an einer narrativen
realistischen Tradition aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts,
die sich der zeitgenössischen Probleme der Industrialisierung und
der Großstadtgesellschaft nur am Rande angenommen hatte. Marie
Jensen klagte in einem Brief an Raabe vom 17.4.1889 darüber, dass
die Familie ohne Rückgriff auf ihr Vermögen in München nicht mehr
existieren könnte, da die Verlage nicht zahlten und Romane nicht
absetzbar seien, höchstens noch Novellen.
Neue literarische
Generationen hatten sich mit einer Hinwendung zum Zeitgeschehen, mit
provokativen künstlerischen Experimenten seit dem Naturalismus
artikuliert. Historismus und Regionalliteratur gerieten ins Abseits,
während die europäischen Nationalstaaten miteinander wetteiferten,
Militarismus und Revanche schürten und schließlich in die
Katastrophen des Weltkriegs marschierten. Das Werk Jensens, das
gekennzeichnet von dem Streben nach überzeitlicher Historizität und
poetischem Realismus in persönlich erlebten suggestiven Landschaften
Deutschlands, bot mit seiner exemplarischen Distanzierung von der
Aktualität kaum weiterreichende Lösungen für große Lebensfragen
an, höchstens noch idyllische Zuflucht und Besinnung, auch wenn
psychologische Konflikte und Tagträume der oft jugendlichen
Protagonisten ins neue Jahrhundert weisen mochten.
Dennoch spiegelten sich
zeitbezogene Probleme der Moderne in den Personenbeziehungen von
Jensens historisch zurückweisenden Romanen, in denen Geschichte sich
an Einzelschicksalen kristallierte, die nicht nur romantische Themen
wie das Doppelgängertum aktualisierten, sondern oft in dramatischen
Dreiecksbeziehungen die prägenden Konstituenten der
Identitätsfindung in feindlichem Milieu innerhalb seiner Epoche
aufzeigten - entgegen einer damaligen Annahme, alle Charaktere bei
Jensen seien norddeutsch, d.h. grüblerisch, verschlossen mit
unterdrückten Emotionen und naturverbunden.3
Diese mag es durchaus dort geben, wo Jensen eigene, trübe
Jugenderinnerungen verarbeitete.
1
Theodor Storm an Heinrich Schleiden, zitiert bei Jochen
Missfeldt: Du graue Stadt am Meer. Der Dichter Theodor
Storm in seinem Jahrhundert. München: Hanser 2013, S. 420. - Zum
Folgenden s. Briefwechsel Raabe Jensen
S.
445. - Allgemeine zeitgenössische Urteile: Meyers Großes
Konversationslexikon von 1905: „Jensen ist der Gegensatz der
modernen Realisten; seine besten Gestalten haben etwas unkörperlich
Geisterhaftes; sie sind aus Stimmung gewoben: aus landschaftlicher
und historischer Stimmung, die sie symbolisch verkörpern. Doch ist
nicht zu leugnen, daß er bei seiner außerordentlichen
Produktivität schließlich arg in Manier geraten ist.“ Die Dramen
und die Lyrik, die schon in der dritten Ausgabe des Meyer von 1876
der Heines angenähert wurde, werden hier bevorzugt. - Vgl. zuvor
Hans Hoffmann, in: Hausbücherei der Deutschen Dichter- und
Gedächtnisstiftung. 15. Bd. Hamburg-Großborstel 1905, S. 84-85 zu
W. Jensen: An der See, S. 83-124: „Wilhelm Jensen wurde am 15.
Februar 1835 in Heiligenhafen in Holstein geboren. Er lebte meist in
Süddeutschland, jetzt seit vielen Jahren in München. Nennt man im
Kreise von Literaturfreunden seinen Namen – und man tut das oft
und gern – so wird fast immer in erster Linie seine erstaunliche
Fruchtbarkeit hervorgehoben und doch ist er keineswegs ein
Vielschreiber in des Wortes tadelndem Sinne; .. Seine farbenmächtige
Phantasie nur ist ihm zu jeder Stunde dienstwillig und gewärtig, er
braucht die Poesie nicht zu kommandieren, sie ist stets von selber
da wie eine liebevoll harrende Hausfrau. Unerschöpfliche Quellen
scheinen seinem Geiste zu sprudeln; seine nie rastende
Erfindungslust führt ihm immer neue Stoffwelten zu. .. wir müssen
Jensen zu den Fürsten unserer Dichtung rechnen. An
Phantasiebegabung übertrifft er vielleicht alle... Er hat uns eine
Reihe von Meisterromanen geschenkt, die nicht wieder vergessen
werden können; ..“
2So
der Titel der Erinnerungen Stefan Zweigs von 1939. - Tucholsky sieht
das allerdings kurz nach dem Kriege noch sehr viel deutlicher in
„Die Weltbühne“ vom 9.7.1919, S.11: „Wenn wir Raabe und Storm
und Keller und Fontane lasen, so bemerkten wir, uns umsehend, wie
wenig doch das neue Deutschland noch mit diesem vergangenen Guten da
zu tun hatte: die alten Herren erzählten von Zügen feinster
Menschlichkeit, und über den staubigen Asphalt der Gegegnwart
kollerten wild gewordene Petroleumschieber und solche, die es werden
wollten“. Auch Fontane seit „altbacken“ und verschwinde mit
seiner Zeit.
3
Vgl. zu allen biographischen Angaben A. Erdmann: Wilhelm Jensen.
Sein Leben und sein Dichten. Leipzig 1907. S. S. 117: „starke,
trotzige Kraftnatur des freiheitsliebenden Friesentums“.
Schön, dass sich jemand so ausführlich mit Wilhelm Jensen beschäftigt!
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