Mittwoch, 31. Dezember 2014

I. Einleitung

Wilhelm Jensens historischer Roman aus dem schwedischen Befreiungskrieg von dänischer Tyrannei um 1520, „Karin von Schweden“ (1872), sein prosemitisch engagiertes Werk, „Die Juden von Cölln“ (1869, „modernisiert“ 2008 von Frank Schätzing) und vor allem seine 1907 von Sigmund Freud für die Psychoanalyse herangezogene Novelle „Gradiva“ (1903) sind die wenigen überdauernden Werke eines einst viel gelesenen Autors, dessen Gesamtwerk in seiner Schaffensperiode von 1866 bis zu seinem Tode 1911 rund einhundert dreißig vorwiegend erzählerische Titel und ein gutes Dutzend Gedichtbände umfasste. Allein „Karin von Schweden“, das die Bibliothek Gutenberg heute mit zur Weltliteratur zählt, hat bis Ende der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts mit einer Gesamtauflage von einer viertel Millionen Exemplaren mehrere Generationen von Lesern gefesselt, ist 2009 in der englischen Version von 1896 neu ediert worden und liegt 2014 zum ersten Mal in der Übersetzung von Christian Moncel und Reinhard Pohl auf Französisch vor.

Jensens Lyrik taucht in keiner Anthologie mehr auf, wiewohl der strenge Theodor Storm 1883 schrieb: „Der einzige jetzt lebende echte Lyriker, soweit mir bekannt, dem nichts fehlt als die geduldige Freude an völliger Vollendung des Gedichtes, ist W. Jensen. Immer wieder nehme ich seine Bücher mit Versen in die Hand und sehe in diese Tiefe und diesen Reichtum. Warm, wie duftschwerer Sommer kommt es mir daraus entgegen“.1 Wilhem Raabe gar empfahl Jensen nach der Lektüre der Gedichte in „Vorherbst“ 1889: „Mache Verse, Mann, und laß uns die Prosa“.
Im Erscheinungsjahr unseres Romans „Karin von Schweden“ 1872 konnte Jensen bereits fünfundzwanzig meist veröffentlichte Werke vorweisen, neben Gedichten die Frauen-Tragödien „Dido“ und „Juana von Castilien“, während die Mehrzahl der Werke dieser frühen Phase Novellen und historische Romane waren und bis zu seinem Tode 1911 auch die bevorzugten Gattungen bleiben sollten.
In den Literaturgeschichten findet der einstige freie Erfolgsautor Wilhelm Jensen wenn, dann nur am Rande Erwähnung – abgesehen von dem später reichlichst kommentierten Bezug von „Gradiva“ zur psychoanalytischen Verdrängungstheorie Freuds – im Hintergrund zu seinen literarischen Freunden Emanuel Geibel (1815-1884) und besonders Wilhelm Raabe (1831-1910) oder seinem novellistischen Vorbild Theodor Storm (1817-1888). In dem Standardwerk Albert Soergels, „Dichtung und Dichter der Zeit“ von 1911 kommt Wilhelm Jensen nicht mehr als Zeitgenosse der letzten Generation vor. War der Groß-Dichter historischer Romane mit seinen Werken in eine Enklave entwichen? Später erfolgte die bekannte Verabschiedung der Autoren der Jahrhundertwende als bärtige Vertreter der „Welt von Gestern“.2

Man könnte die Popularität Jensens und das Vergessen bzw. die Nichterwähnung auch auf Seiten der nachfolgenden literaturwissenschaftlichen Fachwelt damit zu erklären suchen, dass seine Romane vielleicht auf keiner sehr hohen literarischen Qualität beruhten, allzu schematisch seien oder gar ans Triviale grenzten und damit neben den genannten Meistern bis hin zu Theodor Fontane (1819-1898) auf Dauer im Wertekanon nicht bestehen konnten. Rein stilistisch zumindest hob sich Jensens Erzählkunst wegen ihrer syntaktisch sehr differenzierten Prosa vom damaligen feuilletonistischen Trivialroman deutlich ab und sprach ein historisch interessiertes gebildetes Leserpublikum so erfolgreich an, dass er ab 1872 von seiner Feder leben konnte.
Kaum jemand, nicht einmal eingestandener Weise Jensens Biograph A. Erdmann (1907), hatte damals das Riesenwerk insgesamt lesen oder nur angemessen überblicken können. Gängige Quellen verzeichnen heute maximal noch die Hälfte der Werke. Fündiger wird man jedoch in der Universitätsbibliothek von Jensens Vaterstadt Kiel. Neuauflagen außer seinen nationalgeschichtlichen Werken z.B. zur Hanse sind seit den 20ger und 30ger Jahren des letzten Jahrhunderts eher selten. Einer editorischen Rückbesinnung auf seine erzählerischen Meisterwerke verdanken wir die erneute Auflage der Novellen „Im achtzehnten Jahrhundert“ (Latka 1988). Einen breiteren Zugang durch die Digitalisierung älterer Ausgaben besonders aus den Universitätsbeständen der USA beschert uns seit einigen Jahren eine kleine Renaissance fast aller Titel als e-books, jüngst sogar als „Gesammelte Werke“ (s.u.), die alle den Bestellzahlen nach wohl noch auf ihre Entdeckung harren.

Schon lange vor der Jahrhundertwende von 1900 schwand das Interesse an einer narrativen realistischen Tradition aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, die sich der zeitgenössischen Probleme der Industrialisierung und der Großstadtgesellschaft nur am Rande angenommen hatte. Marie Jensen klagte in einem Brief an Raabe vom 17.4.1889 darüber, dass die Familie ohne Rückgriff auf ihr Vermögen in München nicht mehr existieren könnte, da die Verlage nicht zahlten und Romane nicht absetzbar seien, höchstens noch Novellen.
Neue literarische Generationen hatten sich mit einer Hinwendung zum Zeitgeschehen, mit provokativen künstlerischen Experimenten seit dem Naturalismus artikuliert. Historismus und Regionalliteratur gerieten ins Abseits, während die europäischen Nationalstaaten miteinander wetteiferten, Militarismus und Revanche schürten und schließlich in die Katastrophen des Weltkriegs marschierten. Das Werk Jensens, das gekennzeichnet von dem Streben nach überzeitlicher Historizität und poetischem Realismus in persönlich erlebten suggestiven Landschaften Deutschlands, bot mit seiner exemplarischen Distanzierung von der Aktualität kaum weiterreichende Lösungen für große Lebensfragen an, höchstens noch idyllische Zuflucht und Besinnung, auch wenn psychologische Konflikte und Tagträume der oft jugendlichen Protagonisten ins neue Jahrhundert weisen mochten.
Dennoch spiegelten sich zeitbezogene Probleme der Moderne in den Personenbeziehungen von Jensens historisch zurückweisenden Romanen, in denen Geschichte sich an Einzelschicksalen kristallierte, die nicht nur romantische Themen wie das Doppelgängertum aktualisierten, sondern oft in dramatischen Dreiecksbeziehungen die prägenden Konstituenten der Identitätsfindung in feindlichem Milieu innerhalb seiner Epoche aufzeigten - entgegen einer damaligen Annahme, alle Charaktere bei Jensen seien norddeutsch, d.h. grüblerisch, verschlossen mit unterdrückten Emotionen und naturverbunden.3 Diese mag es durchaus dort geben, wo Jensen eigene, trübe Jugenderinnerungen verarbeitete.

1 Theodor Storm an Heinrich Schleiden, zitiert bei Jochen Missfeldt: Du graue Stadt am Meer. Der Dichter Theodor
Storm in seinem Jahrhundert. München: Hanser 2013, S. 420. - Zum Folgenden s. Briefwechsel Raabe Jensen
S. 445. - Allgemeine zeitgenössische Urteile: Meyers Großes Konversationslexikon von 1905: „Jensen ist der Gegensatz der modernen Realisten; seine besten Gestalten haben etwas unkörperlich Geisterhaftes; sie sind aus Stimmung gewoben: aus landschaftlicher und historischer Stimmung, die sie symbolisch verkörpern. Doch ist nicht zu leugnen, daß er bei seiner außerordentlichen Produktivität schließlich arg in Manier geraten ist.“ Die Dramen und die Lyrik, die schon in der dritten Ausgabe des Meyer von 1876 der Heines angenähert wurde, werden hier bevorzugt. - Vgl. zuvor Hans Hoffmann, in: Hausbücherei der Deutschen Dichter- und Gedächtnisstiftung. 15. Bd. Hamburg-Großborstel 1905, S. 84-85 zu W. Jensen: An der See, S. 83-124: „Wilhelm Jensen wurde am 15. Februar 1835 in Heiligenhafen in Holstein geboren. Er lebte meist in Süddeutschland, jetzt seit vielen Jahren in München. Nennt man im Kreise von Literaturfreunden seinen Namen – und man tut das oft und gern – so wird fast immer in erster Linie seine erstaunliche Fruchtbarkeit hervorgehoben und doch ist er keineswegs ein Vielschreiber in des Wortes tadelndem Sinne; .. Seine farbenmächtige Phantasie nur ist ihm zu jeder Stunde dienstwillig und gewärtig, er braucht die Poesie nicht zu kommandieren, sie ist stets von selber da wie eine liebevoll harrende Hausfrau. Unerschöpfliche Quellen scheinen seinem Geiste zu sprudeln; seine nie rastende Erfindungslust führt ihm immer neue Stoffwelten zu. .. wir müssen Jensen zu den Fürsten unserer Dichtung rechnen. An Phantasiebegabung übertrifft er vielleicht alle... Er hat uns eine Reihe von Meisterromanen geschenkt, die nicht wieder vergessen werden können; ..“
2So der Titel der Erinnerungen Stefan Zweigs von 1939. - Tucholsky sieht das allerdings kurz nach dem Kriege noch sehr viel deutlicher in „Die Weltbühne“ vom 9.7.1919, S.11: „Wenn wir Raabe und Storm und Keller und Fontane lasen, so bemerkten wir, uns umsehend, wie wenig doch das neue Deutschland noch mit diesem vergangenen Guten da zu tun hatte: die alten Herren erzählten von Zügen feinster Menschlichkeit, und über den staubigen Asphalt der Gegegnwart kollerten wild gewordene Petroleumschieber und solche, die es werden wollten“. Auch Fontane seit „altbacken“ und verschwinde mit seiner Zeit.

3 Vgl. zu allen biographischen Angaben A. Erdmann: Wilhelm Jensen. Sein Leben und sein Dichten. Leipzig 1907. S. S. 117: „starke, trotzige Kraftnatur des freiheitsliebenden Friesentums“.

1 Kommentar: