Mittwoch, 31. Dezember 2014

IV. Die Geschichte Gustav Wasas?

Im Falle von „Karin von Schweden“ verrät Jensen durch direkte Zitate im Kapitel VII, dass er sich der „Geschichte Schwedens“ von Erik Gustav Geijer bediente, erschienen bei Perthes 1834 in Hamburg („Geschichte der europäischen Staaten“. Bd. II in der Übersetzung von Swen P. Leffler.) Hier sind Gustav Wasa drei Kapitel mit 150 Seiten Länge gewidmet. Der Primat der Phantasie stellt im obigen Zitat das Prinzip des Historischen in Frage bzw. reduziert es auf ein exemplarisches Moment, das für den Leser das Interesse verlieren könnte, sollte es zu undeutlich, zu allgemein oder nur metaphorisch sein.1 Diese Grenze überschreitet Jensen in „Karin von Schweden“ nicht, ordnet jedoch historische Fakten zu Gunsten einer gesteigerten Gesamtwirkung um. Schon in „Die Juden von Cölln“ führt er im Vordergrund Personen ein als Sympathieträger, die in den Strudel des politischen Gewaltgeschehens geraten, es in seiner Entstehung demaskieren und die Gefahr überleben: es sind junge Liebespaare.
Die maximalen Gewaltausbrüche – Dr. Jensen, dem Spezialisten des Nibelungenliedes mit seinem Schlussgemetzel wohl vertraut – wiederholen sich leitmotivisch: der Pogrom wird in der Geschichte des schwedischen Befreiungskrieges von dänischer Tyrannei mit dem Massaker des „Stockholmer Blutbades“ vom November 1520 fortgeführt. Christian II von Dänemark hatte seinen Rechtsanspruch auf die schwedische Krone militärisch durchgesetzt und versöhnlich den schwedischen Adel zur Krönung ins Stockholmer Schloss geladen. Nach einer Verurteilung als Ketzer ließ er dort über hundert Personen hinrichten und verfolgte die dem Fest Ferngebliebenen wie Gustav Eriksson, der den schwedischen Widerstand organisierte und als Gustav Wasa 1523 schwedischer König wurde. Dieser heiratete später in dritter Ehe Katharina Stenbock (1537-1621) im Alter von 17 Jahren. Sie war verlobt mit Gustav Johannsson Roos, der die Verlobung lösen musste und mit Katharinas Schwester verheiratet wurde. Wasas Sohn Erick verlieh ihm später den Grafentitel (s.o. 1834: S. 155). Soweit grob die historischen Fakten.
Hier kommt bei der Frauenfigur Jensens kreative Phantasie zum tragen: er lässt die Verlobten das Stockholmer Blutbad und den Aufstand gegen Dänemark miterleben, d.h.Katharina, das historische Vorbild, wird um eine Generation verjüngt und Karin Stenbock genannt. Sie wird unter diesem Namen zu einer eigenständigen Romanerfindung ebenso wie Gustav Rosen, der Verlobte, der jetzt interessanterweise dänischen Ursprungs ist. Beide wachsen im Schloss Torpa der Stenbocks in Westschweden auf und sind seit Kindesalter füreinander bestimmt.
Wilhelm Jensens chronologischer Eingriff, dem auch Gustav Wasa unterliegt, bringt für das Romangeschehen zweierlei: der nationale Konflikt der beiden Länder wird in nuce auf der Ebene der persönlichen Beziehung ausgetragen. Gustav Rosen entscheidet sich bei dem - von Jensen ersonnenen - Mordanschlag gegen Christian II auf Torpa, wo die Hochzeit stattfinden soll, für seinen König und verrät die Verschwörung Karins, die durch ihre Flucht zur schwedischen Patriotin werden kann an der Seite von Gustav Erichsson, dem späteren Gustav Wasa I. Die Tragödie Schwedens wird theatralisch reduziert und gegenüber der Historie auf ein Kalenderjahr (statt deren drei) mit seinen Jahreszeiten fokussiert. Die Ablösung Karins von der Gestalt Katharinas gibt dem Autor die Freiheit für eine Psychologisierung nach eigenen Vorstellungen. Das knüpft durchaus an eine Tradition literarischer Bearbeitung an, die selten hinterfragt wurde. Goethes Egmont z.B. ist im Trauerspiel bei der Exekution deutlich jünger als das historische Vorbild. Dadurch verringert sich die Distanz zu der von Goethe erfundenen Geliebten Clärchen und die Tragödie gewinnt an Dramatik wie an Anteilnahme, je jünger die geopferten Protagonisten sind. Romeo und Julia wären nicht als altes Paar denkbar,
Neben einer so gewonnenen Einheit der Handlung und Charaktere erdichtet Jensen auch die des Ortes entgegen der geographischen Beschaffenheit. Zwischen dem Schloss Torpa und den großen Wasserfällen des Trollhättan existiert im Roman ein geheimer Fluchtgang. In der Realität liegen zwischen beiden Orten mehr als hundert Kilometer..
Der Trollhättan wird explizit als landschaftlicher Protagonist zum Befreiungsdrama herangezogen. In den Zitaten Jensens sahen wir oben, dass er die Tiefe des Meeres mit dem eigentlichen Verstehen von Geschichte vergleicht. Die gewaltigen, urzeitlichen Fälle von Trollhättan eröffnen und beschließen in fast notwendiger Weise eindrucksvoll in poetisch stilisierter Sprache seinen Roman.
Der Befreiungskampf der Schweden von der dänischen Tyrannis ist für den Leser von „Karin von Schweden“ des Erscheinungsjahres 1872 nicht nur eine geschichtliche Revolte der Renaissance. Die beiden deutschsprachigen Herzogtümer Schleswig und Holstein gehörten seit 1460 zu Dänemark und litten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert unter dem Druck des zunehmenden dänischen Nationalismus. Es kam zu einer blutigen Erhebung 1849/50, die anfangs von Preußen unterstützt wurde, dann aber zusammenbrach. 1864 griffen Preußen und Österreich Dänemark direkt an, besiegten es und teilten die Landesteile als Schutzmächte auf. Nach dem gewonnenen Krieg gegen Österreich annektierte Preußen die beiden Provinzen einschließlich des nördlichen Südtondern.
Wenn Jensens Arbeit an „Karin von Schweden“ wirklich schon 1866 in Stuttgart begann, dann spiegelte sich Zeitgeschichte im schwedischen Freiheitskampf des 16. Jahrhunderts. Die Unterdrücker waren wiederum die Dänen. Aber die Parallele sollten nicht darüber hinweg sehen lassen, dass es den Schleswig-Holsteinern nicht gelang, ihre Unabhängigkeit durchzusetzen.
Inwieweit der deutsch-französische Krieg 1870/71, den Jensen nur lyrisch kommentierte, vom damaligen Leser auf „Karin von Schweden“ bezogen wurde, bleibt fraglich. Karin war zwar als jugendliche, entschlossene Patriotin einer Jeanne d'Arc vergleichbar. Aber jenseits des Rheines ging es nicht um die Befreiung Frankreichs, im Gegenteil, die deutsche Reichsgründung fand auf okkupiertem Territorium statt, wiewohl in beiden siegreichen Fällen sich 1523 wie 1871 neue Monarchien und neue Reiche am Ende der Feindseligkeiten konstituierten.

1Vgl. F. Schätzing: Vorwort zu W. Jensen: Die Juden von Cölln. Köln 2008, S. 8.

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