Im Falle von „Karin
von Schweden“ verrät Jensen durch direkte Zitate im Kapitel VII,
dass er sich der „Geschichte Schwedens“ von Erik Gustav Geijer
bediente, erschienen bei Perthes 1834 in Hamburg („Geschichte der
europäischen Staaten“. Bd. II in der Übersetzung von Swen P.
Leffler.) Hier sind Gustav Wasa drei Kapitel mit 150 Seiten Länge
gewidmet. Der Primat der Phantasie stellt im obigen Zitat das Prinzip
des Historischen in Frage bzw. reduziert es auf ein exemplarisches
Moment, das für den Leser das Interesse verlieren könnte, sollte es
zu undeutlich, zu allgemein oder nur metaphorisch sein.1
Diese Grenze überschreitet Jensen in „Karin von Schweden“
nicht, ordnet jedoch historische Fakten zu Gunsten einer gesteigerten
Gesamtwirkung um. Schon in „Die Juden von Cölln“ führt er im
Vordergrund Personen ein als Sympathieträger, die in den Strudel des
politischen Gewaltgeschehens geraten, es in seiner Entstehung
demaskieren und die Gefahr überleben: es sind junge Liebespaare.
Die maximalen
Gewaltausbrüche – Dr. Jensen, dem Spezialisten des
Nibelungenliedes mit seinem Schlussgemetzel wohl vertraut –
wiederholen sich leitmotivisch: der Pogrom wird in der Geschichte des
schwedischen Befreiungskrieges von dänischer Tyrannei mit dem
Massaker des „Stockholmer Blutbades“ vom November 1520
fortgeführt. Christian II von Dänemark hatte seinen Rechtsanspruch
auf die schwedische Krone militärisch durchgesetzt und versöhnlich
den schwedischen Adel zur Krönung ins Stockholmer Schloss geladen.
Nach einer Verurteilung als Ketzer ließ er dort über hundert
Personen hinrichten und verfolgte die dem Fest Ferngebliebenen wie
Gustav Eriksson, der den schwedischen Widerstand organisierte und als
Gustav Wasa 1523 schwedischer König wurde. Dieser heiratete später
in dritter Ehe Katharina Stenbock (1537-1621) im Alter von 17 Jahren.
Sie war verlobt mit Gustav Johannsson Roos, der die Verlobung lösen
musste und mit Katharinas Schwester verheiratet wurde. Wasas Sohn
Erick verlieh ihm später den Grafentitel (s.o. 1834: S. 155). Soweit
grob die historischen Fakten.
Hier kommt bei der
Frauenfigur Jensens kreative Phantasie zum tragen: er lässt die
Verlobten das Stockholmer Blutbad und den Aufstand gegen Dänemark
miterleben, d.h.Katharina, das historische Vorbild, wird um eine
Generation verjüngt und Karin Stenbock genannt. Sie wird unter
diesem Namen zu einer eigenständigen Romanerfindung ebenso wie
Gustav Rosen, der Verlobte, der jetzt interessanterweise dänischen
Ursprungs ist. Beide wachsen im Schloss Torpa der Stenbocks in
Westschweden auf und sind seit Kindesalter füreinander bestimmt.
Wilhelm Jensens
chronologischer Eingriff, dem auch Gustav Wasa unterliegt, bringt
für das Romangeschehen zweierlei: der nationale Konflikt der beiden
Länder wird in nuce auf der Ebene der persönlichen Beziehung
ausgetragen. Gustav Rosen entscheidet sich bei dem - von Jensen
ersonnenen - Mordanschlag gegen Christian II auf Torpa, wo die
Hochzeit stattfinden soll, für seinen König und verrät die
Verschwörung Karins, die durch ihre Flucht zur schwedischen
Patriotin werden kann an der Seite von Gustav Erichsson, dem späteren
Gustav Wasa I. Die Tragödie Schwedens wird theatralisch reduziert
und gegenüber der Historie auf ein Kalenderjahr (statt deren drei)
mit seinen Jahreszeiten fokussiert. Die Ablösung Karins von der
Gestalt Katharinas gibt dem Autor die Freiheit für eine
Psychologisierung nach eigenen Vorstellungen. Das knüpft durchaus an
eine Tradition literarischer Bearbeitung an, die selten hinterfragt
wurde. Goethes Egmont z.B. ist im Trauerspiel bei der Exekution
deutlich jünger als das historische Vorbild. Dadurch verringert sich
die Distanz zu der von Goethe erfundenen Geliebten Clärchen und die
Tragödie gewinnt an Dramatik wie an Anteilnahme, je jünger die
geopferten Protagonisten sind. Romeo und Julia wären nicht als altes
Paar denkbar,
Neben einer so
gewonnenen Einheit der Handlung und Charaktere erdichtet Jensen auch
die des Ortes entgegen der geographischen Beschaffenheit. Zwischen
dem Schloss Torpa und den großen Wasserfällen des Trollhättan
existiert im Roman ein geheimer Fluchtgang. In der Realität liegen
zwischen beiden Orten mehr als hundert Kilometer..
Der Trollhättan wird
explizit als landschaftlicher Protagonist zum Befreiungsdrama
herangezogen. In den Zitaten Jensens sahen wir oben, dass er die
Tiefe des Meeres mit dem eigentlichen Verstehen von Geschichte
vergleicht. Die gewaltigen, urzeitlichen Fälle von Trollhättan
eröffnen und beschließen in fast notwendiger Weise eindrucksvoll in
poetisch stilisierter Sprache seinen Roman.
Der Befreiungskampf der
Schweden von der dänischen Tyrannis ist für den Leser von „Karin
von Schweden“ des Erscheinungsjahres 1872 nicht nur eine
geschichtliche Revolte der Renaissance. Die beiden deutschsprachigen
Herzogtümer Schleswig und Holstein gehörten seit 1460 zu Dänemark
und litten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert unter dem Druck
des zunehmenden dänischen Nationalismus. Es kam zu einer blutigen
Erhebung 1849/50, die anfangs von Preußen unterstützt wurde, dann
aber zusammenbrach. 1864 griffen Preußen und Österreich Dänemark
direkt an, besiegten es und teilten die Landesteile als Schutzmächte
auf. Nach dem gewonnenen Krieg gegen Österreich annektierte Preußen
die beiden Provinzen einschließlich des nördlichen Südtondern.
Wenn Jensens Arbeit
an „Karin von Schweden“ wirklich schon 1866 in Stuttgart begann,
dann spiegelte sich Zeitgeschichte im schwedischen Freiheitskampf des
16. Jahrhunderts. Die Unterdrücker waren wiederum die Dänen. Aber
die Parallele sollten nicht darüber hinweg sehen lassen, dass es den
Schleswig-Holsteinern nicht gelang, ihre Unabhängigkeit
durchzusetzen.
Inwieweit der
deutsch-französische Krieg 1870/71, den Jensen nur lyrisch
kommentierte, vom damaligen Leser auf „Karin von Schweden“
bezogen wurde, bleibt fraglich. Karin war zwar als jugendliche,
entschlossene Patriotin einer Jeanne d'Arc vergleichbar. Aber
jenseits des Rheines ging es nicht um die Befreiung Frankreichs, im
Gegenteil, die deutsche Reichsgründung fand auf okkupiertem
Territorium statt, wiewohl in beiden siegreichen Fällen sich 1523
wie 1871 neue Monarchien und neue Reiche am Ende der Feindseligkeiten
konstituierten.
1Vgl.
F. Schätzing: Vorwort zu W. Jensen: Die Juden von Cölln. Köln
2008, S. 8.
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