Wilhelm Raabes
Entwicklungsroman „Der Hungerpastor“ (1863/64) stellt die Vita
zweier benachbarter Knaben dar, deren einer, der arme verwaiste
Schusterjunge und späterer Hungerpastor Hans Unwirrsch ist, der
andere Moses Freudenstein, Jude, begütert, begabt und sodann
mondäner Lebemann. Die Freundschaft schlägt von Seiten Unwirrschs
in Hass um. Diese antagonistische Parallelbiographie hat strukturell
einen vielleicht nicht so intendierten Antisemitismus generiert. Sie
wird zum Anlass für Wilhelm Jensen, 1865 die Geschichte des Kölner
Pogroms von 1348 mit einer eindeutig gegenteiligen Tendenz zu
verfassen, die er in der Neuauflage von 1869 mit einem Vorwort
versieht:
„Es ist ein Buch, das
man im Herbst lesen muss, um es zu verstehen. Und wenn man es
recht verstehen will, muss man als Kommentar die Geschichte dazu
lesen. Und wenn man es in seiner Tiefe begreifen will, da muss man es
am Meeresstrand lesen, wo die Wellen kommen und sich überstürzen,
eine nach der anderen, und auf den Sand hinaufrauschen und wieder
zurückrollen ins ewige Wogen des Meeres.
Die Bücher aber, die
ich als Kommentar las, waren der Zeit angemessen, denn sie enthielten
die Krankheitserscheinungen dessen, was wir die Weltgeschichte, die
Lehrerin der Gegenwart nennen.
..
Das Mittelalter mit
seinem schwarzen Tod, seinen Ausgestoßenen, seiner blinden ,
rechtlosen Willkür ist vorüber und seine rohe Barbarei vom Thron
gestürzt. Doch die feine ist geblieben und wendet sich unausgesetzt
gegen ihre alten Opfer.“ (2008: S. 212 f.)
In seinem zweiten
Vorwort zur Auflage von 1897 resümiert Jensen seine zwischenzeitlich
enttäuschende Erfahrung mit seinem Philosemitismus:
„Mich trieb die tiefe
Empörung eines frischempfänglichen Gemüts über die Barbarei
vergangener Zeiten, stürmischer Widerwille gegen die Heuchelei, die
unter dem Banner der Religion tausendfach Schmach und Schande auf den
deutschen Namen gehäuft hatte. Die Juden waren für mich ein
geschichtlicher Begriff, noch keine meinem eigenen Leben
entgegentretende Wirklichkeit. Meine Erzählung trug das Eigentliche
der Dichtung in sich, sie war ein Gebilde der Phantasie, und aus
dieser allein wurde sie geschaffen am historischen Beispiel.“
(2008: S. 207)
In diesen beiden
Passagen ist die ganze historische Ars poetica Jensens enthalten, die
auch für „Karin von Schweden“ und lange darüber hinaus galt:
der Autor stellte sich dem historischen Stoff mit einem Engagement,
das die barbarischen gesellschaftlichen Entgleisungen schilderte, um
sie verstehen und vielleicht überwinden zu können. Grundlage ist
nach diesen Angaben ein vorbereitendes Quellenstudium.
Die methodische
Komplementarität von Historie und Phantasie kommentiert Jensen 1885
im einleitenden Kapitel von „Aus den Tagen der Hansa“:
„ Es ist ein
bedenkliches Unterfangen, ein Bild aus der Mitte des 14. Jahrhunderts
vor Augen stellen zu wollen.“ (S.7) Nach einer Schilderung der
sozialen antagonistischen Dynamik von aufblühenden Städten in den
wirtschaftlichen Zusammenhängen des Ostseeraumes als einer völlig
neuen Welt definiert er seine schriftstellerischen Aufgabe:
„Der Maler, der ein
Bild der deutschen Verhältnisse um die Mitte des 14. Jahrhunderts
entrollen will, darf es nur mit wenigen großen Strichen darstellen;
eine Zeichnung der zahllosen, unablässig sich verschiebenden
Einzelheiten, selbst der bedeutendsten, würde das Ganze
verworren-unkenntlich vor dem Blick zerwogen lassen.“ (S. 11)
Allein dieses selektive
Konzept führte, je näher historischen Epochen waren, offenbar zu
Gewichtungen wie in „ Deutschland in Not“ (1909). In der
Geschichte der „Schwarzen Schar“ im erfolgreichen Widerstand
gegen Napoleon unter dem Herzog von Braunschweig liest sich dieser
„geschichtliche Roman“ kapitelweise wie ein Handbuch mit
sekundärer Binnenerzählung. Jensen geht konzeptuell nicht
schematisch vor, sondern zuweilen auch strukturell in völlig
überraschender Meisterschaft wie 1888 in „Das Asylrecht“:
Ein Verfasser liest in
einem Salon einer mitteldeutschen Residenz seine Novelle aus dem 15.
Jahrhundert vor, in der ein Ritter sich in eine Stadt flüchtet und
um Asyl bittet. Aber dieses Thema taucht am Ende auch in der
Rahmenerzählung auf, als die Tochter vor der hundertköpfigen
Versammlung ihren Vater, den adligen Landgerichtspräsidenten, um die
Erlaubnis bittet, den bürgerlichen Autor, der noch Referendar ist
und, so der Vater, „nichts kann als Verse machen“, zu heiraten.
Auf die kategorische Ablehnung und Zurechtweisung erwiderte „mit
unwandelbarem Gleichmut Gerta [von] Meseritz:
Das tut mir leid, lieber
Vater; so muss ich Herrn von Slawendorf [Freund des Autors] um
Asylrecht für die Liebe bitten..“ (S. 467) Woraufhin sie mit dem
Verlobten davonfährt. Der Freund zum Autor: „Deine ideale Welt ist
doch eine gewaltige Siegerin, .. Die zurückgebliebene reale Welt
stand noch ohne Sprache..“ (469)
Wie authentisch lassen
sich bei reduzierten historischen Fakten die Charaktere gestalten?
Sind sie als dominante Phantasieprodukte mehr als Projektionen der
Erzählzeit? Der Leser kehrt nach dem Ausflug in die Vergangenheit in
seine Gegenwart zurück und ordnet jene ein: da erscheinen
Spiegelungen, Parallelen oder zeitlose Situationen. Auch wenn Jensen
wie in dem großen Roman der Französischen Revolution, „Nirwana“
(1877), die Kritik an der repressiven Institution Kirche in einem
möglichen historischen Zusammenhang gestaltet, sah man darin einen
provokativen aktuellen Beitrag zum damaligen Kulturkampf – und das
sicherlich zu Recht.
Fassen wir vor einem
Blick auf Karin von Schweden noch einmal zusammen: Jensen vereinfacht
programmatisch den geschichtliche Rahmen und lässt ihn in den
Personen dramatischer Abläufe lebendig werden. Sie werden dadurch –
übernehmen wir ruhig einen Ausdruck Hippolyte Taines -determiniert.
Seine detaillierten Naturschilderungen sprechen Phantasie und
Erfahrung des Lesers an und stabilisieren die historische
Perspektive. Dabei ist eines noch wichtiger: die Sprache, in der
erzählt wird, ist durch die Jahrhunderte bei Jensen gleich, ein
komlexes, periodisch differenziertes Mittel, beide polaren Bereiche
zu vereinen.
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