Mittwoch, 31. Dezember 2014

III. Zyklen der Barbarei

Wilhelm Raabes Entwicklungsroman „Der Hungerpastor“ (1863/64) stellt die Vita zweier benachbarter Knaben dar, deren einer, der arme verwaiste Schusterjunge und späterer Hungerpastor Hans Unwirrsch ist, der andere Moses Freudenstein, Jude, begütert, begabt und sodann mondäner Lebemann. Die Freundschaft schlägt von Seiten Unwirrschs in Hass um. Diese antagonistische Parallelbiographie hat strukturell einen vielleicht nicht so intendierten Antisemitismus generiert. Sie wird zum Anlass für Wilhelm Jensen, 1865 die Geschichte des Kölner Pogroms von 1348 mit einer eindeutig gegenteiligen Tendenz zu verfassen, die er in der Neuauflage von 1869 mit einem Vorwort versieht:
Es ist ein Buch, das man im Herbst lesen muss, um es zu verstehen. Und wenn man es recht verstehen will, muss man als Kommentar die Geschichte dazu lesen. Und wenn man es in seiner Tiefe begreifen will, da muss man es am Meeresstrand lesen, wo die Wellen kommen und sich überstürzen, eine nach der anderen, und auf den Sand hinaufrauschen und wieder zurückrollen ins ewige Wogen des Meeres.
Die Bücher aber, die ich als Kommentar las, waren der Zeit angemessen, denn sie enthielten die Krankheitserscheinungen dessen, was wir die Weltgeschichte, die Lehrerin der Gegenwart nennen.
..
Das Mittelalter mit seinem schwarzen Tod, seinen Ausgestoßenen, seiner blinden , rechtlosen Willkür ist vorüber und seine rohe Barbarei vom Thron gestürzt. Doch die feine ist geblieben und wendet sich unausgesetzt gegen ihre alten Opfer.“ (2008: S. 212 f.)
In seinem zweiten Vorwort zur Auflage von 1897 resümiert Jensen seine zwischenzeitlich enttäuschende Erfahrung mit seinem Philosemitismus:
Mich trieb die tiefe Empörung eines frischempfänglichen Gemüts über die Barbarei vergangener Zeiten, stürmischer Widerwille gegen die Heuchelei, die unter dem Banner der Religion tausendfach Schmach und Schande auf den deutschen Namen gehäuft hatte. Die Juden waren für mich ein geschichtlicher Begriff, noch keine meinem eigenen Leben entgegentretende Wirklichkeit. Meine Erzählung trug das Eigentliche der Dichtung in sich, sie war ein Gebilde der Phantasie, und aus dieser allein wurde sie geschaffen am historischen Beispiel.“ (2008: S. 207)

In diesen beiden Passagen ist die ganze historische Ars poetica Jensens enthalten, die auch für „Karin von Schweden“ und lange darüber hinaus galt: der Autor stellte sich dem historischen Stoff mit einem Engagement, das die barbarischen gesellschaftlichen Entgleisungen schilderte, um sie verstehen und vielleicht überwinden zu können. Grundlage ist nach diesen Angaben ein vorbereitendes Quellenstudium.
Die methodische Komplementarität von Historie und Phantasie kommentiert Jensen 1885 im einleitenden Kapitel von „Aus den Tagen der Hansa“:
Es ist ein bedenkliches Unterfangen, ein Bild aus der Mitte des 14. Jahrhunderts vor Augen stellen zu wollen.“ (S.7) Nach einer Schilderung der sozialen antagonistischen Dynamik von aufblühenden Städten in den wirtschaftlichen Zusammenhängen des Ostseeraumes als einer völlig neuen Welt definiert er seine schriftstellerischen Aufgabe:
Der Maler, der ein Bild der deutschen Verhältnisse um die Mitte des 14. Jahrhunderts entrollen will, darf es nur mit wenigen großen Strichen darstellen; eine Zeichnung der zahllosen, unablässig sich verschiebenden Einzelheiten, selbst der bedeutendsten, würde das Ganze verworren-unkenntlich vor dem Blick zerwogen lassen.“ (S. 11)
Allein dieses selektive Konzept führte, je näher historischen Epochen waren, offenbar zu Gewichtungen wie in „ Deutschland in Not“ (1909). In der Geschichte der „Schwarzen Schar“ im erfolgreichen Widerstand gegen Napoleon unter dem Herzog von Braunschweig liest sich dieser „geschichtliche Roman“ kapitelweise wie ein Handbuch mit sekundärer Binnenerzählung. Jensen geht konzeptuell nicht schematisch vor, sondern zuweilen auch strukturell in völlig überraschender Meisterschaft wie 1888 in „Das Asylrecht“:
Ein Verfasser liest in einem Salon einer mitteldeutschen Residenz seine Novelle aus dem 15. Jahrhundert vor, in der ein Ritter sich in eine Stadt flüchtet und um Asyl bittet. Aber dieses Thema taucht am Ende auch in der Rahmenerzählung auf, als die Tochter vor der hundertköpfigen Versammlung ihren Vater, den adligen Landgerichtspräsidenten, um die Erlaubnis bittet, den bürgerlichen Autor, der noch Referendar ist und, so der Vater, „nichts kann als Verse machen“, zu heiraten. Auf die kategorische Ablehnung und Zurechtweisung erwiderte „mit unwandelbarem Gleichmut Gerta [von] Meseritz:
Das tut mir leid, lieber Vater; so muss ich Herrn von Slawendorf [Freund des Autors] um Asylrecht für die Liebe bitten..“ (S. 467) Woraufhin sie mit dem Verlobten davonfährt. Der Freund zum Autor: „Deine ideale Welt ist doch eine gewaltige Siegerin, .. Die zurückgebliebene reale Welt stand noch ohne Sprache..“ (469)
Wie authentisch lassen sich bei reduzierten historischen Fakten die Charaktere gestalten? Sind sie als dominante Phantasieprodukte mehr als Projektionen der Erzählzeit? Der Leser kehrt nach dem Ausflug in die Vergangenheit in seine Gegenwart zurück und ordnet jene ein: da erscheinen Spiegelungen, Parallelen oder zeitlose Situationen. Auch wenn Jensen wie in dem großen Roman der Französischen Revolution, „Nirwana“ (1877), die Kritik an der repressiven Institution Kirche in einem möglichen historischen Zusammenhang gestaltet, sah man darin einen provokativen aktuellen Beitrag zum damaligen Kulturkampf – und das sicherlich zu Recht.

Fassen wir vor einem Blick auf Karin von Schweden noch einmal zusammen: Jensen vereinfacht programmatisch den geschichtliche Rahmen und lässt ihn in den Personen dramatischer Abläufe lebendig werden. Sie werden dadurch – übernehmen wir ruhig einen Ausdruck Hippolyte Taines -determiniert. Seine detaillierten Naturschilderungen sprechen Phantasie und Erfahrung des Lesers an und stabilisieren die historische Perspektive. Dabei ist eines noch wichtiger: die Sprache, in der erzählt wird, ist durch die Jahrhunderte bei Jensen gleich, ein komlexes, periodisch differenziertes Mittel, beide polaren Bereiche zu vereinen. 

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