Mittwoch, 31. Dezember 2014

II. Schwerpunkte

Das historisch-literarische Panorama Wilhelm Jensens kann kurz nach Ort und Zeit umrissen werden, um zunächst das frühe Erfolgswerk „Karin von Schweden“ darin zu situieren, das als erster von drei Novellen-Bänden, „Nordlicht“, 1872 erschien. Diese Strukturierung stützt sich in einem ersten Schitt auf biographische Grundlagen.
Jensen wurde 1837 im damals noch dänischen Holstein geboren, wo er in Kiel und Lübeck aufwuchs, zunächst Medizin in Kiel und Würzburg studierte, dann Literatur und Philosophie in Jena sowie Breslau und seine Studien 1860 als Doktor phil. mit einer Dissertation über das Nibelungenlied abschloss. 1863 folgte er einer Einladung Geibels nach München. 1864 lernte er am Chiemsee die Wienerin Marie Brühl kennen, zog zu ihr nach Wien, wo er den deutsch-dänischen Krieg aus der Ferne erlebte. Nach ihrer Hochzeit 1865 übersiedelte er für vier Jahre nach Stuttgart, wo er literarisch im Umkreis von Raabe zu schreiben begann, laut Erdmann (S.71) auch schon an „Karin von Schweden“. Die politischen Ereignisse 1866, d.h. der Krieg zwischen Österreich und Preußen, ließ ihn an Raabes Seite engagiert für die letzteren und eine kleindeutsche Lösung Partei ergreifen, während er 1848 nur fernen Hass gegen die Befürworter einer völligen Eingliederung der Herzogtümer Schleswig und Holstein in Dänemark gehegt hatte. Als die „Schwäbische Volkszeitung“ 1867 gegründet wurde, trug man ihm die Leitung der Redaktion an. 1869 übernahm er dann für drei Jahre die „Flensburger Norddeutsche Zeitung“ und wurde in dieser Funktion zum bestgehassten Mann bei fanatischen Dänen. Ab 1872 lebte er wieder in Kiel und wechselte aus gesundheitlichen Gründen, inzwischen Berufsschriftsteller, 1876 nach Freiburg. Ab 1888 waren sein Lebenszentrum München und im Sommer besonders der Chiemsee.

Auf der Polarität zwischen norddeutscher Landschaft - Nord- und Ostseeränder eingeschlossen - der des Schwarzwaldes und des Chiemsees beruhen viele Novellen und Romane, die ihren geographischen Kontext im Titel tragen und sich gewissermaßen historisch bis in die Tage der Hansezeit, der Hohenstaufer oder gar der Hunnen öffnen:
1878 „Aus Lübecks alten Tagen“, 1885 „Aus den Tagen der Hansa“, 1890 „Diana Abnoba. Eine Schwarzwaldgeschichte von der Baar“, 1892 Hunnenblut. Eine Begebenheit aus dem alten Chiemgau“, 1895 „Chiemgau-Novellen“, 1900 „Durch den Schwarzwald“, 1904 „Vor drei Menschenaltern. Ein Roman aus dem holsteinischen Land“, 1906 „Unter der Tarnkappe. Ein schleswig-holsteinischer Roman aus den Jahren 1848-50“ usw.
Dank der Aufenthalte und Reisen bis nach Island und den Shetland-Inseln werden die Nord- und Ostsee zu unerschöpfliche Imaginationsquellen mit vertieften Detailkenntnissen und Natureindrücken besonders der Inseln von Norderney bis Fanö („Runensteine“, „Nordsee und Hochland“, „Vor der Elbmündung“, „Aus See und Sand“) und des Küstenraums zwischen Kiel und Flensburg („Flut und Ebbe“, „Luv und Lee“). Hierbei steht besonders nach dem Eindruck der verheerenden Sturmflut vom November 1872 die Ostsee in ihrer Gewalt der der Nordsee nicht nach.
Dieser literarische Raum greift manchmal, durch Ferienreisen motiviert, weiter aus: Italien („Alt-florentinische Tage“ 1893, „Gradiva“ 1903 z.B.), das Elsass („Der Pfeifer von Dusenbach“ 1884) natürlich mit politisch patriotisch Aspekten verbunden: 1871 „Lieder eines Soldaten aus Frankreich“ - diese sind allerdings am Schreibtisch entstanden und zunächst anonym erschienen. Jensen war Patriot, aber niemals Soldat. Am Tag nach der Kapitulation Frankreichs 1871 traf er in Paris mit dem aus dem Exil zurückgekehrten Victor Hugo zusammen, wie er am 5.3.71 an Raabe schrieb, über den und die deutsche Literatur sich beide unterhielten.1 1877 entsteht der religionphilosophische Revolutionsroman „Nirwana, Drei Bücher aus der Geschichte Frankreichs“, 1898/99 „Vom Schreibtisch und aus dem Atelier: aus meinen Kriegsjahren“, „Deutschland in Not. Geschichtlicher Roman aus dem Jahre 1809“. Seine Auseinandersetzung mit Frankreich schließt mit „Une soirée im ancien régime“ („Aus dem 18.Jahrhundert“, 1900) auch die vorrevolutionäre Epoche mit ein.
Kaum ein deutscher Autor des 19.Jahrhunderts widmete sich so umfassend und vielseitig dem französischen Nachbarn und der Napoleonischen Herrschaft in Deutschland (vgl. auch die Widerstandromane 1888 „Runensteine“ und 1909 „Deutschland in Not“).
Wilhelm Jensen war nicht nur ein vorzüglicher Kenner der französischen Geschichte, Sprache und Kultur, sondern beherrschte neben den alten Sprachen und Englisch - so Erdmann S. 39 - das Dänische seiner norddeutschen Nachbarn „völlig“, worauf wir noch zurück kommen müssen.
Einige, meist frühe Romane weisen in andere Kontinente: „Westwardhome, 1866 „Deutsches Land zu beiden Seiten des Oceans“ 1867, „Unter heißerer Sonne“ 1869 sowie später „Brandenburg'scher Pavillon hoch! Eine Geschichte aus Kurbrandenburgs Kolonialzeit“ 1902 nach Afrika. Hier kommt von Seiten der Thematik ein früher Exotismus ins Spiel bzw. das Phantastische wie in der Cornwall-Novelle „Eddystone“ 1872.
Zeitgeschichtliches wird von Wilhelm Jensen nicht ignoriert, gehört jedoch nicht direkt zur Domäne seiner Novellen und Romane mit der paradoxen Ausnahme von 1874 „Nach hundert Jahren. Roman aus neuester Zeit“. Für diese benutzte Jensen, der politische Journalist, die von ihm redigierte Presse besonders in Flensburg und privatissime mitfühlend die situative Lyrik. Ganz selten griff er mit einem direkten Essay in Aktuelles ein wie z.B. in die Debatte um die Vivisektion als kompetenter Mediziner gegen den Tierschützer Richard Wagner. Die großen kriegerischen Ereignisse des Jahrhunderts wie die Eroberungen Napoléons und die beiden Dänenkriege tauchen als Romansujets mehrfach auf – aber mit einem deutlichen historischen Abstand in der Bearbeitung.
Topographie und Chronologie sind indessen nur zwei Rahmenaspekte seines Werkes, dessen Handlungsträger in ihren sozialen Konflikten den Schwerpunkt bilden. Mit den Frühwerken „Die Juden von Cölln“ und den Novellen aus „Nordlicht“ einschließlich „Karin von Schweden“ zeichnen sich die Grundlagen seines weiteren Schaffens ab, d.h vor allem der narrative Umgang Jensens mit seiner historischen Vorlage.
Viele spätere Texte sind, das sei abschließend bemerkt, traditionell wie Karin von Schweden nach ihrer prägenden Hauptperson benannt: „1872 „Posthuma“, 1874 Nymphäa“, 1877 „Berthenia“ oder 1893 „Astaroth. Menta. Zwei Novellen aus dem deutschen Mittelalter“.

1 Vgl. Briefwechsel 132 f. - Jensen kündigt ein nie geschriebenes Buch „Ausdruck meiner Eindrücke in Paris unter dem Druck preußischer Bedrückung“ an. - Seine Haltung im 70ger-Krieg ist sehr viel diffenrenzierter als in neuen franzöischen Novellen-Einleitungen konstatiert wird. Auch wenn Jensen von der Welle eines Hurrah-Patriotismus fortgerissen scheint, ist sein Ansatz ein didaktischer, Er greift die populären anti-französischen Slogans zunächst auf und behandelt den Sieg episch-historisch parallel zum Untergang Roms, ehe er alles in zwölf formstrenge Sonette thematisch mit dem Kampf ums Dasein einmünden lässt. Dabei greift er abschließend versöhnend auf das revolutionäre französische Prinzip der „fraternité“ als Basis für den Staat zurück: „In ihm gestalte keinem sich zur Bürde/ Das Leben, beuge nie Gewalt das Recht/ Ob Herrscherwillkür, ob der rohen Hürde/ Entfesselte Begier. Nicht Herr und Knecht -/ Empor gedieh'n zu freier Menschenwürde/ Sei es ein einzig brüderlich Geschlecht!“(XI). 

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