Das
historisch-literarische Panorama Wilhelm Jensens kann kurz nach Ort
und Zeit umrissen werden, um zunächst das frühe Erfolgswerk „Karin
von Schweden“ darin zu situieren, das als erster von drei
Novellen-Bänden, „Nordlicht“, 1872 erschien. Diese
Strukturierung stützt sich in einem ersten Schitt auf biographische
Grundlagen.
Jensen wurde 1837 im
damals noch dänischen Holstein geboren, wo er in Kiel und Lübeck
aufwuchs, zunächst Medizin in Kiel und Würzburg studierte, dann
Literatur und Philosophie in Jena sowie Breslau und seine Studien
1860 als Doktor phil. mit einer Dissertation über das Nibelungenlied
abschloss. 1863 folgte er einer Einladung Geibels nach München. 1864
lernte er am Chiemsee die Wienerin Marie Brühl kennen, zog zu ihr
nach Wien, wo er den deutsch-dänischen Krieg aus der Ferne erlebte.
Nach ihrer Hochzeit 1865 übersiedelte er für vier Jahre nach
Stuttgart, wo er literarisch im Umkreis von Raabe zu schreiben
begann, laut Erdmann (S.71) auch schon an „Karin von Schweden“.
Die politischen Ereignisse 1866, d.h. der Krieg zwischen Österreich
und Preußen, ließ ihn an Raabes Seite engagiert für die letzteren
und eine kleindeutsche Lösung Partei ergreifen, während er 1848 nur
fernen Hass gegen die Befürworter einer völligen Eingliederung der
Herzogtümer Schleswig und Holstein in Dänemark gehegt hatte. Als
die „Schwäbische Volkszeitung“ 1867 gegründet wurde, trug man
ihm die Leitung der Redaktion an. 1869 übernahm er dann für drei
Jahre die „Flensburger Norddeutsche Zeitung“ und wurde in dieser
Funktion zum bestgehassten Mann bei fanatischen Dänen. Ab 1872 lebte
er wieder in Kiel und wechselte aus gesundheitlichen Gründen,
inzwischen Berufsschriftsteller, 1876 nach Freiburg. Ab 1888 waren
sein Lebenszentrum München und im Sommer besonders der Chiemsee.
Auf der Polarität
zwischen norddeutscher Landschaft - Nord- und Ostseeränder
eingeschlossen - der des Schwarzwaldes und des Chiemsees beruhen
viele Novellen und Romane, die ihren geographischen Kontext im Titel
tragen und sich gewissermaßen historisch bis in die Tage der
Hansezeit, der Hohenstaufer oder gar der Hunnen öffnen:
1878 „Aus Lübecks alten
Tagen“, 1885 „Aus den Tagen der Hansa“, 1890 „Diana Abnoba.
Eine Schwarzwaldgeschichte von der Baar“, 1892 Hunnenblut. Eine
Begebenheit aus dem alten Chiemgau“, 1895 „Chiemgau-Novellen“,
1900 „Durch den Schwarzwald“, 1904 „Vor drei Menschenaltern.
Ein Roman aus dem holsteinischen Land“, 1906 „Unter der
Tarnkappe. Ein schleswig-holsteinischer Roman aus den Jahren 1848-50“
usw.
Dank der Aufenthalte und
Reisen bis nach Island und den Shetland-Inseln werden die Nord- und
Ostsee zu unerschöpfliche Imaginationsquellen mit vertieften
Detailkenntnissen und Natureindrücken besonders der Inseln von
Norderney bis Fanö („Runensteine“, „Nordsee und Hochland“,
„Vor der Elbmündung“, „Aus See und Sand“) und des
Küstenraums zwischen Kiel und Flensburg („Flut und Ebbe“, „Luv
und Lee“). Hierbei steht besonders nach dem Eindruck der
verheerenden Sturmflut vom November 1872 die Ostsee in ihrer Gewalt
der der Nordsee nicht nach.
Dieser literarische Raum
greift manchmal, durch Ferienreisen motiviert, weiter aus: Italien
(„Alt-florentinische Tage“ 1893, „Gradiva“ 1903 z.B.), das
Elsass („Der Pfeifer von Dusenbach“ 1884) natürlich mit
politisch patriotisch Aspekten verbunden: 1871 „Lieder eines
Soldaten aus Frankreich“ - diese sind allerdings am Schreibtisch
entstanden und zunächst anonym erschienen. Jensen war Patriot, aber
niemals Soldat. Am Tag nach der Kapitulation Frankreichs 1871 traf er
in Paris mit dem aus dem Exil zurückgekehrten Victor Hugo zusammen,
wie er am 5.3.71 an Raabe schrieb, über den und die deutsche
Literatur sich beide unterhielten.1
1877 entsteht der religionphilosophische Revolutionsroman „Nirwana,
Drei Bücher aus der Geschichte Frankreichs“, 1898/99 „Vom
Schreibtisch und aus dem Atelier: aus meinen Kriegsjahren“,
„Deutschland in Not. Geschichtlicher Roman aus dem Jahre 1809“.
Seine Auseinandersetzung mit Frankreich schließt mit „Une soirée
im ancien régime“ („Aus dem 18.Jahrhundert“, 1900) auch die
vorrevolutionäre Epoche mit ein.
Kaum ein deutscher Autor
des 19.Jahrhunderts widmete sich so umfassend und vielseitig dem
französischen Nachbarn und der Napoleonischen Herrschaft in
Deutschland (vgl. auch die Widerstandromane 1888 „Runensteine“
und 1909 „Deutschland in Not“).
Wilhelm Jensen war nicht
nur ein vorzüglicher Kenner der französischen Geschichte, Sprache
und Kultur, sondern beherrschte neben den alten Sprachen und Englisch
- so Erdmann S. 39 - das Dänische seiner norddeutschen Nachbarn
„völlig“, worauf wir noch zurück kommen müssen.
Einige, meist frühe
Romane weisen in andere Kontinente: „Westwardhome, 1866 „Deutsches
Land zu beiden Seiten des Oceans“ 1867, „Unter heißerer Sonne“
1869 sowie später „Brandenburg'scher Pavillon hoch! Eine
Geschichte aus Kurbrandenburgs Kolonialzeit“ 1902 nach Afrika.
Hier kommt von Seiten der Thematik ein früher Exotismus ins Spiel
bzw. das Phantastische wie in der Cornwall-Novelle „Eddystone“
1872.
Zeitgeschichtliches wird
von Wilhelm Jensen nicht ignoriert, gehört jedoch nicht direkt zur
Domäne seiner Novellen und Romane mit der paradoxen Ausnahme von
1874 „Nach hundert Jahren. Roman aus neuester Zeit“. Für diese
benutzte Jensen, der politische Journalist, die von ihm redigierte
Presse besonders in Flensburg und privatissime mitfühlend die
situative Lyrik. Ganz selten griff er mit einem direkten Essay in
Aktuelles ein wie z.B. in die Debatte um die Vivisektion als
kompetenter Mediziner gegen den Tierschützer Richard Wagner. Die
großen kriegerischen Ereignisse des Jahrhunderts wie die Eroberungen
Napoléons und die beiden Dänenkriege tauchen als Romansujets
mehrfach auf – aber mit einem deutlichen historischen Abstand in
der Bearbeitung.
Topographie und
Chronologie sind indessen nur zwei Rahmenaspekte seines Werkes,
dessen Handlungsträger in ihren sozialen Konflikten den Schwerpunkt
bilden. Mit den Frühwerken „Die Juden von Cölln“ und den
Novellen aus „Nordlicht“ einschließlich „Karin von Schweden“
zeichnen sich die Grundlagen seines weiteren Schaffens ab, d.h vor
allem der narrative Umgang Jensens mit seiner historischen Vorlage.
Viele spätere Texte
sind, das sei abschließend bemerkt, traditionell wie Karin von
Schweden nach ihrer prägenden Hauptperson benannt: „1872
„Posthuma“, 1874 Nymphäa“, 1877 „Berthenia“ oder 1893
„Astaroth. Menta. Zwei Novellen aus dem deutschen Mittelalter“.
1
Vgl. Briefwechsel 132 f. - Jensen kündigt ein nie geschriebenes
Buch „Ausdruck meiner Eindrücke in Paris unter dem Druck
preußischer Bedrückung“ an. - Seine Haltung im 70ger-Krieg ist
sehr viel diffenrenzierter als in neuen franzöischen
Novellen-Einleitungen konstatiert wird. Auch wenn Jensen von der
Welle eines Hurrah-Patriotismus fortgerissen scheint, ist sein
Ansatz ein didaktischer, Er greift die populären anti-französischen
Slogans zunächst auf und behandelt den Sieg episch-historisch
parallel zum Untergang Roms, ehe er alles in zwölf formstrenge
Sonette thematisch mit dem Kampf ums Dasein einmünden lässt. Dabei
greift er abschließend versöhnend auf das revolutionäre
französische Prinzip der „fraternité“ als Basis für den Staat
zurück: „In ihm gestalte keinem sich zur Bürde/ Das Leben, beuge
nie Gewalt das Recht/ Ob Herrscherwillkür, ob der rohen Hürde/
Entfesselte Begier. Nicht Herr und Knecht -/ Empor gedieh'n zu
freier Menschenwürde/ Sei es ein einzig brüderlich
Geschlecht!“(XI).
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